Dr. Peter Jacobi – Zeitgenössische Kunst: Visionen, 1992

Ausstellung „Zeitgenössische Kunst: Visionen“

Aukloster, Monschau, 06.Juli 1992
Auszug aus der Einführungsrede von Dr. Peter Jacobi

[…] Ähnlich zeigt auch Wolfgang Kohl den einzelnen Menschen in seiner Machtlosigkeit, äußeren Einflüssen und seinem Schicksal ausgesetzt, vor allem den zahllosen, nicht einklagbaren Ungerechtigkeiten des Lebens. Es ist ein wiederkehrendes Thema in seinem Werk – bis hin zur Darstellung der Katastrophe: „Für die Bevölkerung bestand keine Gefahr“. Lassen Sie mich hierzu den sehr passenden Satz aus der Ausstellungsbroschüre zitieren: „Die Figuren sind Ergebnisse aufgearbeiteter Wut, gepaart mit dem Wunsch nach Einflussnahme und Veränderung. So erscheinen sie vor dem Betrachter und versuchen ihn dazu zu bewegen, seine Definition von Wirklichkeit zu überdenken.“ (Zitat Ende). Genau das meine ich, wenn ich von Aktualitätsbezug von Kunst und ihrer Betrachtung spreche. Und ich möchte hinzufügen: Genau das macht Kunst nicht erlebbar, sondern – wenn Sie mir den profanen Ausdruck gestatten – verwertbar für die unendliche Geschichte der Auseinandersetzung mit der Realität – und sie macht wichtige Aspekte dieser Realität begreifbar und damit erträglich. Der Künstler natürlich – sonst wäre er keiner – setzt seine Konfrontation mit der Realität kreativ, unnachahmlich individuell und zugleich zutiefst subjektiv um. Die Art wie er uns solchermaßen Botschaften vermitteln kann, ist Legion. Ich möchte versuchen, 3 Grundmuster hervorzuheben. Zum ersten die schonungslose Konfrontation mit der Wirklichkeit und ihre ungeschminkte, harte, quasi fotografische Umsetzung in äußerst realistischer Form, die vielleicht deshalb schon wieder symbolhaft erscheinen kann. […]

 

Ganze Rede:

Meine Damen und Herren!

In 15 Minuten sechs ganz verschiedenen Künstlern und vor allem ihren Werken kann man gar nicht gerecht, nur ungerecht werden. Das scheinbar Unvereinbare mit dem Etikett „Dialektische Spannung“ zu versehen, in einen großen Topf mit der schönen und geduldigen Aufschrift „Visionen“ zu stecken, Deckel drauf! Ist dies eine Einladung zu geistiger Auseinandersetzung – oder eine subkutane Perfidie des Vorsitzenden? Wahrscheinlich eine wohlabgewogene Mischung aus beidem. Visionen! Es bleibt, Betrachtungsanstöße zu geben und der Versuch, eine Brücke zu schlagen über die Themenvielfalt, um herauszufinden, ob dies tatsächlich Vielfalt in der Einheit ist. Diese Einheit innerhalb derer zeitgenössische Kunst sich bewegt, kann durchaus als die Gegenwart, als der Fluß der Ereignisse begriffen werden, von dem Kunstschaffen ja nicht trennbar ist: das aktuelle, faszinierende und furchtbare Zeitgeschehen. Also: Zeitgenössische Kunst, Visionen! Was diese Ausstellung nicht ist und nicht sein will (wiewohl sie es könnte): eine vom Außengeschehen abgeschottete Oase des Schönen und Erhebenden hinter Klostermauern. Was sie ist und sein möchte: Vielleicht die Welt, wie fragmentarisch auch immer, in einer Nußschale, die uns Aspekte und ihre Visionen einer in ihrer Komplexheit unüberschaubar und unverstehbar gewordenen Welt in überschaubarer symbolischer Form präsentiert. Visionen sind Aspekte des Seins und Tuns: des Seins hier gespiegelt in Stilleben und Menschenbildern; des Tuns, in Klangkörpern und Maschinenwelten. Visionen, das sind auch Tagträume, Wunschträume, Zukunftskonzepte ebenso wie Alpträume, Horrorvisionen, Vergangenheitsbewältigung. Der Begriff deckt ein Spektrum ab, das unaufhörlich oszilliert, fluktuiert und sich im Mittel doch immer gleich bleibt in seinem Aktualitätsgehalt für jeden Einzelnen von uns wie für die Welt als Ganzes. Wir können gar nicht anders als unsere heutige Situation, die Aktualität des Geschehens um uns, die Befindlichkeit unserer zerbrechlichen und zerbrechenden Welt in diese Kunstvisionen miteinzubeziehen. Sowenig wie der Künstler ist der Betrachter von Kunst frei vom Bezug zur Welt der Gegenwart und zum Geschehen um ihn und in ihm. Kunst und ihre Betrachtung und Interpretation hat immer Aktualitätsbezug und muß ihn haben. Die Spannweite des Bogens der Realitäten auf diesem Planeten macht schwindlig. Menschliches Leiden, Erdulden und Sterben, Hunger, Folter, Mord und Verwüstung, Aussichtslosigkeit bis zur Existenzverwei-gerung sind in bedrohliche Nähe gerückt und gar nicht mehr erfaßbar, geschweige denn verarbeitbar. Auf der anderen Seite Wohlstand, materieller Überfluß, Freizeitgesellschaft: Weltausstellung, olympische Spiele, Disneyland….. Wo ist unser Standpunkt, unser Aussichtspunkt? Hier Definitionshilfe zu leisten ist eine wichtige Aufgabe aller Kunst.

Visionen bewegen sich wie die Physik in Raum und Zeit und mithin in mindestens 4 Dimensionen – vielleicht sogar in den kosmologisch diskutierten 11…. – ihre künstlerische Umsetzung jedoch sprengt alle Dimensionen, bewegt sich seit jeher in vielen Universen und dringt in Tiefen vor, die rational auszuloten uns nicht gegeben ist. Was also tragen die Künstler dieser Ausstellung an Interpretationshilfe zu den Visionen von Traum bis Alptraum bei, die unsere Gegenwart kennzeichnen, basierend auf den Ereignissen, die wie Flutwellen ohne Ende anbranden, unaufhörlich in allen Facetten und die wir umsetzen (müssen!) in Wahrnehmung, Emotion, Reaktion. Der Bezug zur unruhigen, bedrückenden, bedrohlichen, zur fürchterlich – schönen Gegenwart ist in dieser Ausstellung vielfach gegeben. Nehmen Sie Janet Brooks-Gerloff’s Menschenbilder. Menschen in extremen Situationen vor allem Menschen mit offenbar reicher, meist schmerzlicher Erfahrung. Diese Erfahrung, ausgedrückt in Gefühlen wie Sachverhalten, komponieren in hochsensibler Weise ihre Bilder. Menschen in Konfliktsituationen, in Ausweglosigkeit, Resignation oder Meditation; sie komponieren sie in einer Eindringlichkeit, die sofort verstehbar ist, häufig ohne daß die oft nur konturierten Gesichter der dargestellten Menschen diese Gefühlsregungen widerspiegeln. Das übernehmen Haltung, Gestik, Ambiente. Dies macht Janet Brooks-Gerloff’s Bilder meisterhaft. Narürlich sind solche Darstellungen immer zeitlos aktuell. Ähnlich zeigt auch Wolfgang Kohl den einzelnen Menschen in seiner Machtlosigkeit, äußeren Einflüssen und seinem Schicksal ausgesetzt, vor allem den zahllosen, nicht einklagbaren Ungerechtigkeiten des Lebens. Es ist ein wiederkehrendes Thema in seinem Werk – bis hin zur Darstellung der Katastrophe: „Für die Bevölkerung bestand keine Gefahr“. Lassen Sie mich hierzu den sehr passenden Satz aus der Ausstellungsbroschüre zitieren: „Die Figuren sind Ergebnisse aufgearbeiteter Wut, gepaart mit dem Wunsch nach Einflußnahme und Veränderung. So erscheinen sie vor dem Betrachter und versuchen ihn dazu zu bewegen, seine Definition von Wirklichkeit zu überdenken.“ (Zitat Ende). Genau das meine ich, wenn ich von Aktualitätsbezug von Kunst und ihrer Betrachtung spreche. Und ich möchte hinzufügen: Genau das macht Kunst nicht erlebbar, sondern – wenn Sie mir den profanen Ausdruck gestatten – verwertbar für die unendliche Geschichte der Auseinandersetzung mit der Realität – und sie macht wichtige Aspekte dieser Realität begreifbar und damit erträglich. Der Künstler natürlich – sonst wäre er keiner – setzt seine Konfrontation mit der Realität kreativ, unnachahmlich individuell und zugleich zutiefst subjektiv um. Die Art wie er uns solchermaßen Botschaften vermitteln kann, ist Legion. Ich möchte versuchen, 3 Grundmuster hervorzuheben. Zum ersten die schonungslose Konfrontation mit der Wirklichkeit und ihre ungeschminkte, harte, quasi fotografische Umsetzung in äußerst realistischer Form, die vielleicht deshalb schon wieder symbolhaft erscheinen kann. Kann man, darf man wenigstens zum Teil die Werke von Gerlinde Zantis, von Mladen Kunstic dazurechnen? Lassen Sie uns das untersuchen. Gerlinde Zantis konfrontiert uns mit den Produkten, den „Brainchildren“ menschlichen Erfindergeistes im Guten wie im Bösen – nämlich der Technik und Maschinenwelt, der wir heute ausgelieferter sind als je zuvor in der menschlichen Geschichte. Die meisten dieser Bilder scheinen die kühle Distanz einer unbestechlichen und unbeteiligten Chronistin zu spiegeln. Technik an sich ist weder gut noch böse – das ist bis zum Überdruß zitiert – sie ist oft beeindruckend und kann sogar schön sein. Diesem ästhetischen Aspekt scheint Gerlinde Zantis primär verpflichtet – auf den 1. Blick. Doch glaube ich schon auf den 2. Blick nicht mehr daran – daß das alles ist. Da gibt es Maschinen, die gibt es gar nicht! Also stehen sie für etwas, vermitteln uns eine (symbolische) Botschaft. In anderen Bildern gar machen sich die strengen mechanischen Teile selbständig, sind umfunktionierte Bausteine für ganz andere Kompositionen, wie z.B. in ihren Werken „Hochmut“ und „Zeitlos“ etwa (hier zumindest im Katalog zu besichtigen). Und siehe da, Gerlinde Zantis hat mit den Mitteln einer ganz anderen Welt eine Sprache gefunden, ja komponiert, die nicht nur verstanden wird, sondern Empfindungen auslöst, die Seele mitschwingen läßt. Im wahren und übertragenen Sinn des Wortes: Maschinensprache. Unsere These vom Fotorealismus trifft also nur bedingt zu: er ist bei Gerlinde Zantis das Eingangstor zu einer ganz eigenen Welt.

Auch Mladen Kunstic sammelt technische und maschinelle Bausteine unserer Industrie- und Konsumgesellschaft und zwar im ganz konkreten Sinne und fügt sie zu Neuem von geradezu erstaunlicher Aussagekraft zusammen. Postindustrielle Fabelwesen leben als phantastische Gestalten einer Zwischenwelt ihr eigenes Leben – das neue Ganze ist weit mehr als die Summe seiner alten Teile. Es hält uns den Spiegel der Ambivalenz aller Dinge vor – exotisch und vertraut zugleich. Einmal mehr führt uns Mladen Kunstic in meisterhafter Weise vor Augen (und teilweise mit seinen kinetischen Klangobjekten auch vor Ohren), daß es der Mensch ist, der den Dingen seiner Welt Funktion und Bedeutung verleihen kann: Gut oder Böse, Maschine oser Symbol, Waffe oder Kunstwerk…. Es kommt nur auf die Art des Zusammenfügens an – und manchmal auf die Vision des Betrachters. Zurück zur Ausgangsbetrachtung. Ein zweiter vor allem für die Kunst des 20. Jahrhunderts häufig beschrittener Weg ist die Umsetzung von Erlebtem und Durchlebtem in – oft – eisige Abstraktion; das Bemühen Raum und Abstand zu schaffen und – vorwiegend natürlich negative – Ereignisse und Bedrohungen unter gleichzeitiger Distanzierung symbolhaft zu kondensieren. Das ist der Versuch, die Botschaft zu vermitteln, ohne an ihr zu ersticken, zu zerbrechen. Hier kann ich allerdings für heute Entwarnung geben: Für diese Richtung, so wichtig sie auch in der modernen Kunst ist, sehe ich in dieser Ausstellung keine Belege. Wer glaubt, daß dies etwas mit der Zielsetzung des Rheinischen Kunstvereins zu tun hat, tut dies auf eigene Verantwortung. Ein dritter Weg ist die Flucht oder das Ausweichen in die Gegenwelt: Das Zuschlagen der Tür zwischen mir und den Ereignissen; das bewußte oder unbewußte Beschwören von Harmonie, Ruhe, Schönem, Besinnlichem als Gegenreaktion – immer auch eine starke Motivation von Kunst in Vergangenheit und Gegenwart. Ist Will Leenders ein Kandidat für solch eine Interpretation? Will Leenders kommt mit seinen Weite und Tiefe vermittelnden Landschaften und teiweise auch Porträts dem Ideal alles Beunruhigende und Störende auszuklammern, sich der Kontemplation und Erholung im Ästhetischen hinzugeben am nächsten – auf den berühmten 1. Blick. Der unvermeidbare 2. Enthüllt uns auch hier vielfach die Konfrontation mit der Realität, aber in höchst subtiler, mehr zu erahnender als zu belegender Weise. Eine Baumgruppe wirkt bei längerer Betrachtung plötzlich bedrohlich in der Schneelandschaft. Ein kaum merkliches Flackern im Blick einer Porträtierten signalisiert die Störung vermeintlich perfekter Harmonie durch etwas nicht Dargestelltes unter dem Horizont liegendes Unbekanntes – und schärft gerade dadurch unsere Sinne. Auch Leopold Peer’s Stilleben atmen Ruhe, Sammlung. Sie bieten Fixpunkte sehr fern von Emotionen, Fixpunkte, ohne die Schicksal und Ereignisse, das Hereinbrechen der Gegenwart nicht zu bewältigen sind. Ganz konkrete Ruhepunkte bieten z.B. seine Muschelstilleben – eine Einladung zum Verweilen, zur Reflektion. Vor allem in seinen neueren Werken jedoch scheinen sich von den rändern her die klar begrenzenden Linien in ein Sprühwerk ihrer konstituierenden Partikel aufzulösen, um mit einem Hintergrund zu verschmelzen, der die Unendlichkeit des Sternenhimmels suggeriert. Die sanfte Flucht in ein surreales Medium – eine Aufforderung an unsere Nachtgedanken, sich ebenso verströmend aufzulösen. Sie müssen nur den feinen Bögen folgen, die, Parabeln die sie sind, aus unserer Wirklichkeit hinaus in unauslotbare Räume weisen. Doch drehen Sie sich um! Leopold Peer holt Sie auch zurück in die Wirklichkeit durch abrupte Brüche, Abbröckeln von Fassaden oder Oberfläche, den Blick freigebend auf Darunterliegendes, der Fassade Widersprechendes als Kontrapunkt und Verweis auf symbolhaften Symmetriebruch. Abbild unserer vielschichtigen Wirklichkeit. Ist es Zufall oder die im Hintergrund doch ordnende Hand des Vorsitzenden, aber beinahe wie von selbst ließen sich die Künstler dieser Ausstellung zu thematischen Paaren gruppieren (Janet Brooks-Gerloff und Wolfgang Kohl, Gerlinde Zantis und Mladen Kunstic, nicht anders Will Leenders und Leopold Peer). Zusammen schlagen sie einen großen Bogen von unserer trivial oberflächlichen oder schönen, beschwerlichen oder furchtbaren Realität hin zu unseren Träumen – und zurück!

Meine Damen und Herren, es gibt nichts Absolutes, schon gar nicht in der Kunst. Und: unsere Welt von heute ist alles andere als in Ordnung – mehr Alptraum denn Traum. Unter dem Eindruck dieser belastenden Gegenwart waren meine Interpretationsansätze eher negativ. So subjektiv die Botschaft der Kunstwerke ist, so subjektiv und momentabhängig sind auch die Eindrücke des Betrachters. Aber natürlich haben Sie gemerkt, daß dieser Interpretationsversuch nicht durchzuhalten war. Künstler lassen sich in keine Schablonen zwängen und permanent unter etikettierten Rubriken ablegen. Das ist das Aufregende an der Kunst! Vielleicht löst ja dasselbe Kunstwerk zu verschiedenen Zeiten verschiedene Empfindungen aus, weil es mit den Augen einer anderen Gegenwart gesehen wird. Vielleicht hätte ich Ihnen in einer schönen, neuen Welt – der wir uns vor kurzem ja noch so nahe wähnten – etwas ganz anderes erzählt.

Das Faszinierende jedoch ist: Durch ihre Individualität und Subjektivität ist Kunst zeitlos, sodaß sie jeder Zeit (zusammen und auseinander geschrieben!) etwas zu sagen hat. In diesem Sinne sind Sie eingeladen und aufgefordert, sich mit der faszinierenden Bandbreite der hier ausgestellten Werke zu befassen, die Anstoß sein wollen für Ihre ganz persönliche Vision.

Ich, für meinen Teil, hoffe, daß ich Sie ein wenig verwirren konnte und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

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